17

 

 

 

Willem wachte auf, öffnete aber nicht die Augen, sondern drehte sich um, bohrte seinen Kopf tiefer ins Kissen.

»Willst du auch ein Glas Champagner?«

Das war Pias Stimme. Er schreckte hoch, riss die Augen auf. Pia saß am Fußende des Bettes in einer riesigen Badewanne. Willem ließ sich zurück fallen. Natürlich! Sie waren in einem Hotel. Es war Pias Vorschlag gewesen, hier ein Zimmer zu nehmen. Sie wollte nicht alleine sein, und hatte keine Lust, mit in Willems enges Appartement zu kommen. Auch Willem hatte nicht allein sein wollen.

»Bist du des Wahnsinns, um diese Uhrzeit Champagner zu trinken!«

»Wir haben gleich elf Uhr, du Schlafmütze!«, antwortete Pia im gleichen Ton.

Willem richtete sich auf, schaute sich in dem luxuriösen Zimmer um, antikes Mobiliar, schwere Teppiche auf dem Boden, ein flämisches Landschaftsbild an der Wand und diese riesige Badewanne mittendrin. Willem hatte Pia nicht gefragt, woher sie das Hotel kannte. Er vermutete, sie war zuvor »dienstlich« hier gewesen.

Pia plätscherte vergnügt, schenkte sich ein weiteres Glas ein aus der Flasche, die in einem silbernen Kühler auf einem Tisch gleich neben ihr stand, und stopfte sich eine dicke Erdbeere in ihren kleinen Mund.

»Komm doch auch rein! Es ist herrlich!«

Willem konnte der Versuchung nicht widerstehen, robbte sich durch das große Bett und stieg in die Wanne, die spielend beiden Platz bot.

»Soll ich dir etwas anderes bestellen?«

Pia wollte schon zum Telefon greifen, das ebenfalls auf dem Tisch stand.

»Ach, nein, nichts. Ich bin nicht hungrig, vielleicht später.«

Er nahm sich nur eine Erdbeere und streckte sich aus.

Pia spielte mit ihrem Fuß zwischen seinen Beinen. Es war angenehm. Willem schloss die Augen, tauchte tiefer in das weiche warme Wasser ein und gab sich ganz einer trägen Lust und einem süßen Rest von Schläfrigkeit hin.

Seine Gedanken wanderten zu Anne-Marie und Anne-Marie zu ihm in seine Gedanken. Sie schritt langsam über eine noch feuchte Wiese direkt auf ihn zu. Das lange offene Haar war völlig durchnässt, ebenso ihr weißes Tennishemd, das auf ihren mädchenhaften Brüsten klebte. Auf ihrer bronzefarbenen Haut schimmerten verführerisch letzte Regentropfen. Ihre grünen Augen, ihre roten Lippen, ihre wie Perlen weiße Zähne – alles an ihr strahlte. Sie kam näher, streckte ihre schlanken Arme nach ihm aus, und Willem versuchte sie zu fassen. Doch Pia stupste Willem empfindlich mit dem Fuß.

»Hast du noch Zigaretten?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht sind noch welche in meiner Tasche.«

Schlagartig hatte Pia ihm seine Stimmung verdorben.

»Ach, lass! Ich werde welche bestellen. Brauchen wir sonst noch was?«

Auch Pias Stimmung war umgeschlagen.

»Du könntest nach Zeitungen fragen, die ›Times‹, ›Sun‹, einfach alles, was sie da haben.«

Pia telefonierte, und fünf Minuten später klopfte es an der Tür. Ein Zimmerkellner brachte einen Stapel Zeitungen und ein kleines Silbertablett mit einer geöffneten Packung Zigaretten.

»Wo darf ich die Sachen ablegen?«

»Einfach hier auf den Tisch«, sagte Pia recht rüde.

»Vielen Dank!«, sagte Willem.

Ohne eine Miene zu verziehen, verschwand der Kellner aus dem Zimmer.

Die »Mail« stellte in einem Leitartikel ihren Lesern die Frage: »Ist Henry Hewitt ein Held?«

Langatmig drückte der Verfasser sein Bedauern aus, dass ein angesehener Bürger wie der Kunst- und Antiquitätenhändler Henry Hewitt das Opfer eines kaltblütigen Verbrechens geworden war, und zeigte drei Absätze lang Verständnis dafür, dass der vorbildliche Vater Henry Hewitt selbst in größter Not, nämlich als man ihm seine Tochter, das ihm Liebste und Teuerste, entführte, sich nicht den britischen Sicherheitsbehörden anvertraute, sondern sich selbst mutig den Verbrechern entgegenstellte. Schuld an Hewitts Tod aber hätten nicht nur seine brutalen Killer, sondern auch die Polizei, die im Kampf gegen das Verbrechen längst den Rückzug angetreten habe, wofür die politische Verantwortung letztlich der Innenminister, überhaupt die ganze Regierung, trage, die den Sicherheitskräften die immer wieder angemahnte materielle und moralische Unterstützung verweigere.

Willem lächelte. Er dachte an seine Zeit als Journalist zurück. Damals hatte er ähnlichen Unsinn massenhaft zu Papier gebracht.

»Times« und »Guardian« berichteten, dass mindestens zwei Täter an der Entführung beteiligt gewesen seien. Einer davon sei mehr als einen Meter fünfundneunzig groß und stabil und habe Jeans und eine schwarze Lederjacke getragen. Es war von zwei Tätern die Rede, fiel Willem auf, nicht von einem Mann und einer Frau. Die Personenbeschreibung stützte sich ganz offensichtlich auf eine Aussage Anne-Maries, ebenso wie die Information, dass in jedem Fall einer der Entführer einen osteuropäischen Akzent habe. Das Lösegeld wurde immer noch nicht erwähnt, nur dass »fieberhaft« nach einem weißen Lieferwagen vom Typ Ford Escort gefahndet werde.

Anne-Marie hatte sich wahrscheinlich in der Automarke geirrt, als ihr die Polizei Fotos verschiedener Modelle vorlegte. Willem dachte, dass ihm wahrscheinlich der gleiche Fehler passiert wäre. Über dem Artikel der »Times« stand: »Polizei ist Hewitts Mördern auf der Spur«, der im »Guardian« trug die Überschrift: »Noch keine heiße Spur im Fall Hewitt«.

Über einen grauenhaften Leichenfund auf Londons Schienennetz konnte Willem in keiner Zeitung etwas entdecken.

Dafür war es auch noch zu früh. Willem ging davon aus, dass Londons große Lokalzeitung, der »Evening Standard«, frühestens in seiner Nachmittagsausgabe dazu eine Meldung bringen könnte, falls ihm der fast alltägliche Vorfall eine Meldung wert wäre.

»Und? Steht etwas Besonders drin?«

»Nein, nichts«, sagte Willem zufrieden.

»Dann kann ich mich ja duschen. Mir wird das Wasser hier allmählich zu kalt«, sagte Pia und hüpfte aus der Wanne. »Was hast du heute vor, Will?«

»Nichts.«

»Willst du mich begleiten? Ich gehe einkaufen und besorge mir ein Zugticket. Morgen will ich nach Spanien. Wenn es möglich ist, fahre ich schon heute Abend.«

»Gut«, sagte Willem und hoffte, seine Enttäuschung war Pia verborgen geblieben.

 

 

Pia bestand darauf, die Hotelrechnung aus ihrem Anteil zu bezahlen. Sie tat es mit übertriebener Lässigkeit, als wollte sie Willem imponieren.

Zum Schluss fischte sie aus ihrer Hosentasche eine weitere Fünfzig-Pfund-Note, knallte sie mit der flachen Hand auf das Pult und sagte laut: »Fürs Personal!«

Dem verdutzten Angestellten hinter der Rezeption blieb nichts anderes übrig, als Pia vielmals zu danken und hinterher zu rufen: »Beehren Sie uns bald wieder.«

Willem fand Pias Auftritt eher amüsant als peinlich, für den vermutlich einer ihrer »Gäste« Vorbild gestanden hatte. Er verlor kein Wort darüber. Letztlich war ihm egal, wie Pia sich anderen Menschen gegenüber verhielt.

Auf der Straße drehte sich Willem um und las »The Portobello Hotel«. Er würde sich das Hotel merken. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, wo sie eigentlich waren, in einer gepflegten Seitenstraße von Ladbroke Grove, im besseren, dem Holland Park zugewandten Teil von Notting Hill. Die Hewitts – also Anne-Marie und ihre Tochter – wohnten knapp zehn Minuten von hier.

Sie fuhren zuerst zu Willem, stellten in seinem kleinen Appartement die Taschen ab und ließen auch den Wagen zurück, bevor sie sich erneut auf den Weg machten.

In einem Reisebüro an der U-Bahn-Station Earl’s Court erstand Pia eine Zugfahrkarte nach Barcelona – Abfahrtzeit zwanzig Uhr einunddreißig von Waterloo, also noch an diesem Abend. Der Grund, warum sie nicht flog, war einleuchtend. Sie wollte eine Gepäckkontrolle am Flughafen vermeiden, bei der ihre fünfhunderttausend Pfund minus Hotelrechnung bei den Beamten mehr als nur neugieriges Interesse erwecken könnten. Im Zug war dagegen die Gefahr einer genauen Prüfung ihres Gepäcks äußerst unwahrscheinlich. Als die Frau im Reisebüro sie fragte, warum sie nicht fliege, spielte Pia die Verlegene.

»Flugangst.«

»Oh, Sie Arme!«, war die gewünschte Reaktion.

Pia wollte sich neue Klamotten kaufen, wie sie Willem sagte. Und er sollte sie beraten. Willem empfahl, in Knightsbridge auszusteigen, um sich bei »Harvey Nichols« umzuschauen. Über fünf Etagen breiteten namhafte Designer ihre Kollektionen vor der kauffreudigen, meist weiblichen Kundschaft aus. Überall standen reizende Verkäuferinnen parat, die Willem nicht selten ebenso attraktiv fand wie deren Kundinnen.

Er überredete Pia, eine zartblau-weiß karierte Bluse anzuprobieren, eine ganz ähnliche, wie sie Anne-Marie getragen hatte, als sie für Willem noch die Sphinx war. Die Bluse war hochgeschlossen mit einem kleinen abgerundeten Kragen und leicht tailliert. Hatte sie Anne-Marie damals trotz ihrer Schlichtheit geradezu elegant erscheinen lassen, wirkte sie bei Pia plump, beinahe bäuerlich. Ihre Taille und ihre Schultern schienen zu breit, ihr Hals zu kurz, ihr Teint zu blass.

Pia sah ganz unglücklich aus, zog die Bluse schnell wieder aus, wollte auch nichts anderes anprobieren, da sie sich, wie Willem ihr ansah, bei »Harvey Nichols« einfach deplaziert fühlte. Pia bestand darauf, zur Oxford Street zu fahren.

Dort stürzte sie sich in einen wahren Kaufrausch. Willem trottete gelangweilt hinter ihr her, während Pia von »H & M« zu »Max Mara« und anschließend durch mehrere Jeansläden rannte, und überall schwer bepackt mit Mini-Röcken, Tops und T-Shirts in den knalligsten Farben herauskam. Pia war selig.

Bepackt mit tausend Tüten, von denen sie nicht eine Willem überlassen wollte, brüllte sie ein Taxi herbei.

»Jetzt lade ich dich zum Essen ein.«

Willem leistete keinen Widerstand.

»Ins ›Quaglino’s‹ in der Bury Street, aber schnell, bitte«, befahl Pia dem Fahrer und sagte zu Willem: »Ich habe tierischen Hunger.«

Das »Quaglino’s« war eines jener postmodernen Restaurants, die in den letzten Jahren in London wie Pilze aus dem Boden schossen. Ihr unterkühlter Schick zog vor allem junge Aufsteiger an, die hier ihren raschen Wohlstand sich selbst und ihresgleichen vorführten. Die Anordnung fast unzähliger kleiner eckiger Tische, an denen insgesamt oft hundert Gäste Platz fanden, folgte einer strengen Geometrie. Halogenlicht leuchtete die Säle völlig gleichmäßig aus, und Spiegel erleichterten aus jeder Perspektive das Sehen-und-Gesehen-Werden.

Die Lunch-Zeit war längst vorbei. Nur eine Handvoll Gäste hockte noch weit verstreut herum, und Pia hatte die Qual der Wahl, sich einen ihr genehmen Tisch auszusuchen. Verloren schritt sie durch die Gänge, setzte sich mal hier, mal dort hin, bis sie sich, zu Willems Erleichterung, endgültig für einen Tisch nahe am Buffet entschied, auf dem Massen von Muscheln und Austern, riesige exotische Fische sowie Berge von Früchten bombastisch aufgebaut waren. Ein aalglatter Kellner trat heran. Pia bestellte sich einen Caipirinha, Willem einen Medium Sherry.

»Es ist unser letztes gemeinsames Essen«, sagte Pia feierlich. Willem wusste nicht recht, was er antworten sollte. »Will, bevor wir auseinander gehen, wollte ich dich noch eins fragen: Bist du eigentlich böse, dass Nikita und ich die Entführung allein durchgezogen haben, ohne dich?«

»Nein, Pia. Warum auch? Es ist vorbei.«

Willem wollte nicht mehr darüber reden. Schließlich hätte er die Entführung verhindert, wenn er es gekonnt hätte. Alles, was geschehen war, war deshalb auch seine Schuld gewesen. Aber das sagte er Pia nicht. Er erinnerte sich daran, wie er versucht hatte, Nikita davon abzuhalten. Sein Verhalten kam ihm im Nachhinein kindisch vor. Er verstand, dass Pia und Nikita die Entführung daraufhin alleine durchgezogen hatten. Nein, er konnte Pia nicht böse sein, Nikita erst recht nicht. Der war tot.

»Es war übrigens meine, nicht Nikitas Idee«, gestand Pia. »Er bestand sogar darauf, dass wir dir Hunderttausend von dem Lösegeld abgeben, ich meine, wenn alles glatt gelaufen wäre. Du hattest ja nicht mit mehr als Hunderttausend gerechnet. Wir hätten das bestimmt getan. Ehrenwort.«

»Schon gut, ich glaube dir.«

Willem war Pias Mitteilungsbedürfnis peinlich.

»Und noch eins: Ich bin dir sehr dankbar. Du hast dich wirklich fabelhaft verhalten, Will.«

»Du auch, Pia.«

»Ich bereue nichts.«

»Ich bereue auch nichts, Pia.«

Willem bemerkte, wie Pias Augen vor Rührung glänzten. Sie wollte ihren Teller nehmen, um sich am Buffet zu bedienen. Doch der Kellner trat ihr entgegen.

»Sie können mir sagen, was Sie wünschen. Ich werde es Ihnen gerne bringen.«

»Dann bringen Sie mir zuerst mal ein paar von den Austern!«

Pia setzte sich wieder und hielt sich verlegen an ihrem Caipirinha fest.

»Und der Herr?«

»Für mich im Augenblick nichts. Ich werfe erst einen Blick auf die Karte. Vielen Dank!«

Willem sah vergnügt zu, wie Pia einen gehäuften Teller mit Austern genüsslich in sich hinein schlürfte. Anschließend ließ sie sich eine große Platte Vitello tonnato kommen, kalten Kalbsbraten mit pikanter Thunfischsauce. Er aß nur eine kleine Portion Risotto mit Muscheln.

»Willst du weiterhin ein Hotel eröffnen?«, fragte Willem.

»Vielleicht. Vielleicht mache ich auch eine Boutique für Touristen auf oder eine Sprachschule, in der Engländer und Deutsche Spanisch lernen können. Aber zunächst werde ich sehr, sehr lange nichts tun. Ich will alles vergessen, nicht nur die letzten Tage, sondern alles, was ich in London, überhaupt in England, erlebt habe.«

Willem verstand, was sie meinte, ihre Zeit im Club und das »Rausgehen« mit den Gästen, ihre Zeit als Au-pair-Mädchen und die Vergewaltigung damals. Im nächsten Augenblick war Pias Traurigkeit schlagartig verschwunden.

»Und ich werde mir die Haare wieder lang wachsen lassen«, verkündete sie freudestrahlend.

Als Dessert verschlang Pia noch ein Tiramisu, beglich die Rechnung und steckte dem verblüfften Kellner ein Trinkgeld von zwanzig Pfund zu.

Willem lenkte Pia anschließend direkt auf »Swaine, Adeney, Brigg and Sons« zu. Er hatte ihr vorgeschlagen, sich neues Reisegepäck zu kaufen. Willem wollte damit vermeiden, dass Pia ihr Vermögen in der schwarzen Sporttasche der Hewitts nach Spanien transportierte, nach der – man konnte nie wissen – die Polizei möglicherweise ebenso Ausschau hielt wie nach dem weißen Lieferwagen.

»Einen schönen guten Tag, Mister… Clarke. Richtig?«

Es begrüßte sie dieselbe Verkäuferin, bei der Willem den Schirm gekauft hatte, mit Robin Clarkes Kreditkarte.

»Sind Sie mit dem Schirm zufrieden, Mister Clarke?«

»Ja, sehr. Vielen Dank.«

Pia musste sich beherrschen, nicht lauthals loszulachen.

»Was ist das denn? Mister Clarke? Das musst du mir erklären«, flüsterte sie ihm zu.

»Später, Pia.«

»Was darf ich Ihnen heute zeigen?«

Die Verkäuferin ließ sich durch Pias Kichern nicht irritieren.

»Wir suchen nach einer Reisetasche für meine Freundin«, sagte Willem.

»Darf ich Sie bitten, mir zu folgen.«

Die Verkäuferin zeigte ihnen ein breites Sortiment edler Lederwaren. Pia wollte sich gleich für eine gelbe Tasche entscheiden, die auch Willem gefiel, die er aber zu auffällig fand. Er überredete Pia, eine mittelbraune zu nehmen, die zwar weniger elegant war, aber dafür dezenter.

»Zahlen Sie wieder mit Karte, Mister Clarke?«

»Nein, ich zahle«, sagte Pia schnell, »und zwar bar.«

Sie zückte ein ganzes Bündel von Fünfzig-Pfund-Scheinen aus ihrer Hose.

»Wie Sie wünschen.«

Die Verkäuferin schien völlig ungerührt.

Pia stopfte ihre Einkäufe in das wohlriechende neue Gepäckstück, das Willem hinaustragen durfte. Erst im Taxi zu Willems Wohnung erzählte er Pia, was es mit diesem Mister Clarke auf sich hatte. Pia lachte schallend los.

 

 

Zwei Stunden später kamen Willem und Pia pünktlich an der Waterloo-Station an. Der Zug stand bereits abfahrbereit am Gleis. Pia trug ihren verbeulten Flugkoffer sowie die nagelneue Reisetasche in ihr Schlafwagenabteil und stieg wieder aus, um sich von Willem zu verabschieden.

»Pia, du kannst doch nicht die Tasche unbeaufsichtigt lassen!«

»Ach, es wird schon nichts passieren. Umarm mich mal!« Willem schlang seine Arme um sie und drückte sie fest an sich.

»Will, ich hoffe ich sehe dich bald wieder.« Er dachte daran, dass nur die Polizei zwischen ihnen ein baldiges Wiedersehen arrangieren könnte. Genau das hoffte er nicht.

»Bestimmt! Irgendwann, denke ich. Aber bitte ruf mich auf jeden Fall an, um mir zu sagen, wie ich dich in Spanien erreichen kann. Für den Fall des Falles. Du verstehst, was ich meine.«

Todesursache feststellen. Pia war weg und bald in Spanien. Sie könnte noch entkommen. Aber er? Er war noch in London, allein und verloren.

Willem stieg an der Station Gloucester Road aus. Er musste raus. Er konnte den Anblick des Mülls nicht eine Sekunde länger ertragen und auch nicht die einsamen Figuren, die ebenso versunken wie er in ihren Sitzen saßen. Er musste noch ein paar Schritte gehen, bevor er sich wieder in die freiwillige Gefangenschaft seines Appartements begab.

Nervös zündete er sich eine Zigarette an. Nikitas Körper war also unversehrt, zumindest nicht schlimmer zugerichtet als vor seinem Tod. Pia und er hätten ihn ebenso gut auf einen Parkplatz oder in einen Straßengraben werfen können. Die lange Nachtfahrt durch den Londoner Süden war sinnlos gewesen.

Willem versuchte gegen die aufsteigende Depression anzukämpfen. Wie gefährlich war die Lage wirklich? Wer könnte »sachdienliche Hinweise« geben, die die Polizei auf seine Spur setzten? Er dachte an jenen Sonntag zurück, als er Nikita besucht hatte und an dem sich in Nikitas Küche das Panoptikum seiner Freunde versammelt hatte. Jeden einzelnen ging Willem in Gedanken durch.

Patrick, der rothaarige Ire, würde den Teufel tun, und sich bei der Polizei melden. »Hallo, ich bin ein IRA-Sympathisant und habe übrigens dem Toten einen Revolver zugesteckt?« Nein, auch wenn dieser Patrick wahrscheinlich Willem genauso verabscheute wie er ihn, würde er seinen Mund halten.

Cathy, diese fette Amerikanerin, würde sich höchstens bei der Polizei beschweren, dass es Nikita nicht mit ihr »getrieben« hatte, wie Pia sagen würde. Den kleinen Pizzabäcker, dachte Willem, könnte er getrost vergessen. Der war nur daran interessiert, auf welcher Party er das nächste Dosenbier umsonst bekam.

Und Michail? Er schien wirklich ein Freund Nikitas zu sein. Doch allein wegen seiner krummen Geschäfte mit Nikita machte er sicherlich um jeden Polizisten einen großen Bogen, dem er auf der Straße begegnete. Eine echte Gefahr wäre Michail nur dann, wenn ihn sich die Polizei von sich aus vorknöpfte, etwa im Zusammenhang mit dem weißen Lieferwagen. Aber selbst dann könnte Michail – und das sogar zu Recht – behaupten, er habe nichts mit der Entführung zu tun.

Willems Kopf war ganz heiß. Er zündete sich die nächste Zigarette an, schmiss sie nach einem Zug wieder weg. Er hasste die Vorstellung, jetzt in sein Zimmer zurückkehren zu müssen. Die Nacht allein in einem Hotel zu verbringen, wäre aber auch nicht besser, sagte er sich. Es war ihm eine Qual, die Tür aufzuschließen, und eine noch größere, sie hinter sich zuzuziehen. Er machte kein Licht, sondern zog sich im Dunkeln aus, bevor er sich fiebernd tief in sein Bett verkroch.

Irgendwann in der Nacht wachte er auf. Oder war es bereits Morgen? Sein Bett war getränkt von kaltem Schweiß. Sein Pyjama klebte wie eine zweite Haut am Körper. Er schüttelte sich vor Kälte. Übelkeit stieg schmerzhaft in ihm auf. Er musste aufstehen, ihm schwindelte, er fiel wieder aufs Bett zurück, ließ sich auf den Boden gleiten, kroch auf allen vieren zur Toilette. Er erbrach sich in heftigen Schüben, krampfhaft, ohne richtig Luft zu bekommen. Wie tot blieb er eine Weile auf den kalten Fliesen liegen. Er erbrach sich erneut, wartete, steckte dann seinen Kopf unter kaltes Wasser, das er als lauwarm empfand. Er wechselte den Pyjama. Zu mehr war er nicht fähig. Schließlich sank er in sein Bett wie in eine feuchte Grube.

Alles drehte sich vor seinen geschlossenen Augen. Er öffnete sie. Alles drehte sich weiter. Das Zimmer kam ihm wie eine Zelle vor. Er wusste: Nichts war vorbei! Sie hatten Nikitas fast intakten Körper gefunden. Sie würden ihn kriegen. Aus einem abfahrenden Zug winkte ihm Pia lachend zu. Er lief neben dem Zug, wollte aufspringen, denn er fühlte, er wurde verfolgt, ohne seine Verfolger zu sehen. Er versuchte die Zugtür zu greifen, aber der Zug wurde schneller und schneller. Auch er wurde schneller. Doch es gelang ihm einfach nicht, so schnell wie der Zug zu sein.

Immer wieder wurde er wach. Waren die Muscheln im Risotto schuld an seinem Zustand? Oder die Unmengen an Zigaretten, die er mit Pia die vergangenen Tage konsumiert hatte? Er wollte nicht daran denken. Denn allein daran zu denken, verursachte ihm weitere Übelkeit. Wenn nur nicht diese Kälte wäre!

Hewitt ist tot, Hewitt ist tot, Hewitt ist tot. Wieder pochte der Satz in seinem Schädel. Und wieder sah er Anne-Marie auf einer Bank im Holland Park, wieder ganz in Schwarz. Er hörte, wie Anne-Marie ihm immer wieder diesen einen Satz entgegenschleuderte: Hewitt ist tot, Hewitt ist tot. Er versuchte wegzulaufen. Doch je weiter er sich von Anne-Marie entfernte, desto lauter hörte er sie rufen: Hewitt ist tot. Er hielt sich die Ohren zu. Aber es half nichts. Er hörte genauso laut: Hewitt ist tot.

Willem bemühte sich, wach zu bleiben. Er wollte nicht mehr träumen. Doch seine Träume schlichen sich in seine Gedanken, wie seine Gedanken sich in seine Träume schlichen. Es war immer dieselbe Angst.

Am frühen Abend glaubte er eine leichte Besserung zu spüren. Er raffte sich auf, duschte, zog sich an, richtete sein Bett. Er wollte ein paar Zeitungen kaufen. Erst auf der Straße spürte Willem, wie angeschlagen er immer noch war. Immer wieder musste er stehen bleiben.

In seine Zelle zurückgekehrt, ließ er sich ins Bett fallen. Er wollte lesen, schaffte es aber nicht. Die Buchstaben sprangen vor seinen Augen herum, schienen sein Fieber in die Höhe zu treiben, und wieder fiel er in einen fiebrigen und unruhigen Schlaf.

Er sah Nikita auf den Gleisen, ausgestreckt, als hinge er am Kreuz. Willem beugte sich über ihn. »Nikita, man darf dich hier nicht finden!« Er versuchte den kalten Körper aufzuheben. Doch Nikita lachte ihn an, schlang seine Arme um ihn, so fest, dass Willem nicht weglaufen konnte. Ein Zug kam. Willem hörte ganz deutlich, wie der Zug schon durch die Unterführung raste, durch die Tür, in sein Zimmer, über sein Bett.

Dann drehte sich Willem um, spürte das Zeitungspapier unter sich, zog es hervor, versuchte zu lesen. »Rätselhafter Mord an Russland-Flüchtling«, mehr konnte er nicht erkennen, bevor Fieber und Erschöpfung sich wieder seiner bemächtigten. Aber er hatte verstanden, dass die Polizei Nikita identifiziert hatte. Es verfolgte ihn in seinem Schlaf ebenso wie die Gewissheit, dass die Polizei auch ihn bald identifizieren würde. Nichts war vorbei! Alles fing erst an.

Dann fand er sich in einem Gerichtssaal wieder. Er war der Angeklagte. Willem gestand alles, auch wenn er sich nicht schuldig fühlte. Er verteidigte sich nicht. Denn er konnte einfach nicht hervorbringen, dass Pia auf Hewitt geschossen hatte, dass Pia Nikita mit dem Kissen erstickt hatte. Es wären billige Ausreden gewesen. Und dann hörte Willem von sehr weit her eine Stimme, die wie ein Echo klang: »Damit sich alles erfüllt, damit ich mich weniger allein fühle, brauche ich mir nur noch eines zu wünschen: am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit Schreien des Hasses empfangen.« Aber es war nicht seine eigene Stimme, die Willem hörte. Es war die Stimme eines Fremden.

 

 

Drei Tage hatte der Fieberanfall gedauert. Erst am Donnerstag konnte Willem wieder einen klaren Gedanken fassen. Am frühen Nachmittag weckte ihn Heißhunger auf. Er machte sich eine große Portion Pasta, schüttete Ketschup darüber, etwas anderes hatte er nicht im Haus.

Sein Zimmer sah wie eine Trümmerlandschaft aus. Pia hatte ihre Plastiktasche mit alten Sachen zurückgelassen, die sie nicht nach Spanien mitnehmen wollte. Die Kleidungsstücke, die Willem zuletzt getragen hatte, bedeckten den Boden. Der Revolver beschwerte einen Stapel Zeitungen auf dem Tisch unter dem Fenster. Die schwarze Sporttasche der Hewitts war halb offen. Aber selbst der flüchtige Blick auf die fünfhunderttausend Pfund ließ ihn im Augenblick gleichgültig. Willem saß auf seinem Bett und stopfte hastig die Nudeln in sich hinein.

Das Telefon klingelte.

»Hallo?«

Willem musste husten. Er war es nicht mehr gewohnt zu sprechen.

»Will, was ist los? Bist du in Ordnung? Hier ist Pia.«

Wie immer schien sie guter Laune zu sein.

»Pia! Schön, dass du dich meldest. Bist du schon in Spanien? Ist alles glatt gegangen?« Wieder hustete Willem. »Entschuldigung, aber ich war krank.«

»Mein Gott, du hörst dich schrecklich an.«

»Es ist nichts, wirklich. Nun sag doch, wo steckst du?«

Pia geriet ins Schwärmen.

»Es ist herrlich, Will. Ich bin bei meiner Schwester in Barcelona. Draußen sind es fünfunddreißig Grad. Und alles lief super. Keinerlei Kontrollen. Nur kurz nach der Abfahrt musste ich einmal meinen Pass vorzeigen. Hast du etwas zu Schreiben zur Hand? Ich wollte dir die Telefonnummer meiner Schwester geben.«

Willem kramte einen Stift hervor und schrieb die Nummer, die Pia ihm diktierte, auf ein Stück Zeitungspapier.

»Und gibt es irgendetwas, was ich wissen muss? Oder kannst du gerade nicht sprechen, weil ein Polizist hinter dir steht?«

Pia lachte.

»Nein, es war nichts, nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.«

Warum sollte er ihr erzählen, dass man Nikita gefunden hatte, dass er nicht »gevierteilt« worden war? Pia hätte jetzt nichts mehr davon. Es würde sie nur unnötig beunruhigen.

»Ich sage doch, Will, es ist alles vorbei. Uns kriegt keiner. Und wenn doch, dann nicht vor zwölf Uhr mittags. Früher stehe ich nicht auf.« Pia lachte wieder. »Ach, Will, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, wieder hier zu sein.«

»Doch, Pia! Das kann ich mir vorstellen. Falls etwas Unerwartetes passieren sollte, lass ich es dich rechtzeitig wissen. Ich wünsche dir weiterhin alles Gute!«

»Danke, Will. Und sieh zu, dass du auch aus London raus kommst. Fahr in die Sonne! Bye, bye, Will.«

»Bye, bye, Pia.«

Willem legte auf.

Er wühlte in seinem Bett nach den Zeitungen, um den Bericht über den »Rätselhaften Mord« zu lesen, der ihn bis in seine Albträume verfolgt hatte. Willem erschrak. Die Kriminalisten, Gerichtsmediziner und Bürokraten schienen alles über jenen Nikita Sergeij Basarow zu wissen, den ehemaligen russischen Seemann, der vor zehn Jahren in Großbritannien um politisches Asyl nachgesucht hatte, jedenfalls mehr als Willem von ihm wusste. Aus der Zeitung erfuhr er, dass Nikita vorbestraft war, sogar acht Monate wegen Diebstahls im Gefängnis gesessen hatte, und dass er die letzten fünf Jahre sowohl in Reading als auch Hounslow Sozialhilfe kassiert hatte.

In dem Bericht stand auch, dass ein Steckschuss in die Wirbelsäule zu schweren inneren Blutungen geführt hatte, die wahrscheinlich tödlich gewesen wären, wenn man den Schwerverletzten nicht zuvor erstickt hätte. Und der Zeitpunkt der Schussverletzung wurde ebenso exakt angegeben wie der Zeitpunkt seines Todes. Trotz der vielen Fakten, dachte Willem, musste der Mord für die Polizei rätselhaft sein, weil es einfach kein Mord war, sondern Pia und er Nikitas langes Sterben nur verkürzt hatten.

Für Willem war nur eins rätselhaft: Die Polizei hatte offensichtlich noch nicht erkannt, dass ein Zusammenhang zwischen Nikita und Hewitt bestand, oder sie hatte ihre Überlegungen nicht an die Presse weitergeben, um nicht die weiteren Ermittlungen zu gefährden. Willem machte sich nichts vor. Er konnte sich nicht in Sicherheit wiegen. Pia hatte Recht. Er musste raus aus London.